Autismus

Die Symptome und die individuellen Ausprägungen des Autismus sind vielfältig, sie können von leichten Verhaltensproblemen an der Grenze zur Unauffälligkeit (etwa als "Schüchternheit" verkannt) bis zur schweren geistigen Behinderung reichen.

Allen autistischen Behinderungen sind Beeinträchtigungen des Sozialverhaltens gemeinsam: Schwierigkeiten, mit anderen Menschen zu sprechen (etwa wegen eintöniger Prosodie), Gesagtes richtig zu interpretieren, Mimik und Körpersprache einzusetzen und zu verstehen.

Kernsymptomatik bei autistischen Behinderungen ist vorrangig die Schwierigkeit, mit anderen Menschen zu kommunizieren und stereotype oder ritualisierende Verhaltensweisen. Autistische Menschen zeigen grundlegende Unterschiede gegenüber nicht- autistischen Menschen in der Verarbeitung von Sinneseindrücken und in der Art ihrer Wahrnehmungs- und Intelligenzleistungen.

frühkindlicher Autismus (Fallbeispiel Tim)

erste Auffälligkeiten ab dem 10.-12. Lebensmonat

Blickkontakt: selten, flüchtig

Sprache: in der Hälfte der Fälle das Fehlen einer Sprachentwicklung; ansonsten verzögerte Sprachentwicklung, anfangs oft Echolalie, Vertauschen der Pronomina

Intelligenz: hauptsächlich kategorisiert als geistige Behinderung (LFA), teilweise normale bis hohe Intelligenz

Motorik: keine Auffälligkeiten, die auf den Autismus zurückzuführen sind

Quelle: (http://de.wikipedia.org/wiki/Autismus)

 

 

 

Tiergestützte Sozialarbeit mit Hund bei Menschen mit Autismus

 

 

Das Arbeiten mit Menschen mit einer autistischen Behinderung ist sicherlich eine der anspruchsvollsten Aufgaben für ein Mensch- Hund- Team. Die Anforderungen an den Hund sind durch die Beeinträchtigungen im Sozialverhalten des Klienten sehr hoch, da sein Verhalten von den "bekannten" Interaktionsmustern teilweise erheblich abweichen kann. Der Hund muss sich also auf einen Menschen einlassen, dessen Verhalten er allein nicht "verstehen" kann. Daher ist eine gute, auf Vertrauen basierende Bindung mit dem Teamführer enorm wichtig. Ein ebenfalls wichtiger Aspekt in der Tiergestützten Arbeit ist die Bereitschaft des Hundes sich auf eine Bindungs- oder Beziehungsebene zum Klienten ein zu lassen. Grundlegend ist aber vor allem eines: Das Mensch- Hund Team muss Freude an der Arbeit haben!

In der Tiergestützten Sozialarbeit hat der Teamführer die Aufgabe alle Aktionen sehr genau zu beobachten und dem Hund die Sicherheit, die Führung und den Schutz zu bieten, die er in der Behandlung benötigt. Für das Gelingen ist die genaue Beobachtung des Verhaltens (z.B. Überforderungszeichen) des behinderten Menschen mindestens ebenso wichtig, da das Stimmungsbarometer sehr schnell umschlagen kann. Um eine positive Atmosphäre zu erhalten bzw. Eskalationen vorzubeugen, ist an dieser Stelle eine hohe Konzentration des Teamführers notwendig. Von daher ist die eigene "Tagesverfassung" nicht unerheblich.

Im folgenden Fallbeispiel beschreibe ich die Entwicklung eines jungen Mannes mit Autismus in der Tiergestützten Arbeit. Anhand dieses Beispiels möchte ich verdeutlichen, wie sich die Tiergestützte Sozialarbeit gestalten kann, welche Anforderungen an Mensch und Hund gestellt sind, aber besonders welchen Potentiale diese Arbeit für Menschen mit Behinderung bieten kann.

Grundsätzlich arbeite ich im ersten Schritt mit einer Anamnese, in der ich die Rahmendaten, Intentionen, die genaue Beschreibung des Behinderungs-/Krankheitsbildes und Zielvorstellungen erfasse. Hieraus erstelle ich dann den vorläufigen Behandlungsplan. Meine erste Planung dient vor allem der Überprüfung der gesetzten Ziele des Helfersystems und zur Entwicklung meiner eigenen Ziel- und Maßnahmenvorstellung. Ich halte diesen Schritt für sehr wichtig, da in der Regel die Möglichkeiten und Grenzen in der Tiergestützten Sozialarbeit dem Helfersystem nicht bekannt sind. Von daher versuche ich in dem Gespräch mit den Beteiligten eine realistische Zielvorstellung zu erarbeiten. Es hat sich als hilfreich heraus gestellt auch gleich einen weiteren Gesprächstermin zur Überprüfung der Ziele fest zu legen.

 

Fallbeispiel

Die Anfrage wurde Ostern 2007 an mich gestellt. Zu dem Zeitpunkt war meine Hündin Luluu trächtig. Mit der Tiergestützten Sozialarbeit haben wir im Sommer 2007 begonnen. Seit 2009 nehme ich im Wechsel auch meinen Rüden Leo, Luluus Sohn, mit zu Tim.

Bild aus dem Jahr 2009. Tim hat Spass.

 

1. Anamnese

1.1. Rahmendaten:

Tim ist ein 16 - jähriger autistischer Junge. Er lebt in einer Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung und besucht das 8. Schuljahr einer Schule für geistig behinderte Kinder.

1.2. Motivation des Helfersystems zur Tiergestützten Sozialarbeit:

Ein Mitarbeiter seiner Wohngruppe hat an einem Tag seinen Hund mit zur Wohngruppe gebracht. Überraschenderweise interessierte sich Tim für den Hund und zeigte sich gut gelaunt. Auf Fotos wurde der Mutter das Zusammentreffen von Tim mit Hund gezeigt. Gemeinsam mit der Mutter, der Wohngruppe und der Schule wurde die Hypothese aufgestellt: Tiergestützte Sozialarbeit für Tim könnte positiv auf sein Stimmungsbild wirken.

1.3. Behinderungsbild von Tim:

Tim ist autistisch wobei der Schweregrad seiner geistigen Behinderung nicht meßbar ist. Er wird in seinen Grundbedürfnissen voll versorgt (Waschen, Toilette, Ernährung). Tim mag keine Berührungen und kann diese auch in der Grundversorgung nicht immer tolerieren. Er nimmt von sich aus kaum oder keinen Körperkontakt auf. Tim kann nicht sprechen und nimmt kaum Blickkontakt auf. Er reagiert auf seine akustische Umwelt bei mechanischen Geräuschen wie dem Knistern von Plastiktüten, metallisches Rasseln und Bau- Traktorengeräusche die er auch visuell verfolgt. Tim ist oral fixiert und steckt alles in den Mund, was er erreichen kann (z.B.: trinkt er das Wasser aus der Blumenvase oder reißt Grasbüschel aus und ißt diese.) Außerhalb von Räumlichkeiten wird Tim mit einem Rollstuhl geschoben obwohl er keine motorischen Einschränkungen hat. (Tim läßt sich gerne schieben.) Gründe für die Fixierung im Rollstuhl sind plötzliche Stimmungsschwankungen. Tim kann seine Stimmungslage nur über Singen, Lachen und bestimmte hell klingende Laute bei positiver Stimmung, oder durch um sich Schlagen, Kneifen, Schreien, Beißen und autoaggressive Handlungen (Selbstverletzungen) bei negativer Stimmung mitteilen.

Insgesamt zeigt Tim oft negative Stimmung und muss dann zu seinem eigenen Schutz und dem der Klassenkameraden und Mitbewohner, sowie zur eigenen Beruhigung in einen anderen, reizarmen Raum gebracht werden. Tim kann nur bedingt am Gruppengeschehen teilnehmen. Er benötigt einen immer gleich bleibenden Tagesrhythmus und kann sich nur schwer auf ihm unbekannte Menschen und auf Neues oder Abweichendes von seinem Gewohntem einstellen.

1.4. Zielsetzung des Helfersystems:

Der Schwerpunkt der Mitarbeiter der Wohngruppe, der Schule und der Mutter lag auf positivem Erleben und Wohlbefinden für Tim, da er sonst nur wenig an seiner Umwelt teilnehmen kann. Wohl erhofft, nicht aber formuliert, ist der Wunsch nach einer positiven und nachhaltigen Persönlichkeitsentwicklung von Tim.

1.5. Vorläufiger Behandlungsplan:

 

Der erste Kontakt:

Wie vereinbart klingele ich an der Tür zur Wohngruppe. Es sind Schulferien und Tim ist wegen des veränderten Tagesrhythmus viel in seinem Zimmer. Luluu, meine Hündin, ausgerüstet mit ihrer Kenndecke als Zeichen für "jetzt arbeiten" ist ein wenig aufgeregt und Spiegelbild meiner selbst. Tausend Fragen schießen mir durch den Kopf. Wie wird Tim auf Luluu reagieren? Was ist, wenn er meinen Hund schlägt? Wie ist es, wenn ich mit einen Helfer arbeite? (Das ist neu für mich). Welche Angebote werden wohl sinnvoll sein und Tim erreichen?

Die Bezugsbetreuerin öffnet die Tür und führt uns in das notwendig karge Zimmer von Tim. Er sitzt auf dem Boden und spielt mit einem Stück knisternder Folie. Sein erster Blick gilt dem Hund. Ein flüchtiges Lächeln läßt mich erst einmal aufatmen. Luluu muss sich in den für sie neuen Räumlichkeiten orientieren. Ich lasse ihr den Freiraum. Kein Kommando. Tim ist ein neuer Interaktionspartner für den Hund. Langsam bewegt sich Luluu auf Tim zu. Tim weicht zurück und setzt sich im Schneidersitz auf sein Bett. Rückzug, aber keine Abwehr zu erkennen. Tim schaut vom Bett aus auf Luluu herunter. Wieder ein kleines Lächeln. Luluu bleibt stehen und nimmt nur noch olfaktorische Informationen auf. Die Betreuerin holt den Rollstuhl. Ein Zeichen für Tim "es geht ins Freie".

Der erste wie auch alle weiteren Spaziergänge gehen über das weitreichende Gelände der Einrichtung. Luluu läuft zwischen mir und Tim. Weitere Interaktionsangebote werden von mir zunächst nicht gemacht. Tim ist deutlich am Hund interessiert. Er betrachtet Luluu sehr genau. Der Hund schaut in diesen Momenten Tim nicht an. Sieht Tim in eine andere Richtung schaut der Hund auf Tim. Begegnen sich die Blicke, schauen beide schnell weg. Tims Lautäußerungen sind hell, das Gesicht entspannt. Also eindeutig positive Stimmung.

Mehrere Male unterhalte ich mich kurz mit der Bezugsbetreuerin. Keine gute Idee. Tim ist etwas abgelenkt und ich auch. Luluu hat in diesen Momenten keine sichere Führung. Gegen Ende des ersten Angebotes lasse ich Luluu auf einer kleinen Mauer stehen um Tim eine neue Perspektive zum Betrachten zu bieten. Tim lacht. Er richtet seinen Fokus nun voll auf den Kopf von Luluu. Ich hebe eines von Luluus Ohren an, damit Tim die Innenseite betrachten kann. Positive Reaktion. Noch immer schaut Tim weg, wenn der Hund ihn ansieht und umgekehrt. Der Hund steht seit ca. 10 Minuten auf der Mauer. Wenn Luluu ein Leckerchen erhält, ist Tim vollkommen begeistert. Luluu schaut Tim nun immer öfter an. Tims Abwenden verzögert sich.

Meine Analyse des ersten Angebotes:

 

Bewertung:

Auswertungsgespräch mit dem Helfersystem:

 

2007 Tim schaut sich die Zunge genau an. Luluu bleibt minutenlang in der für sie recht unbequemen Haltung. Der Hund benötigt hierfür zu diesem Zeitpunkt noch ständigen Blickkontakt zu mir.

 

2007 Luluu läßt sich von Tim genau betrachten und bleibt in der Position. Ich stehe gut sichtbar gebe das "Bleib"-Zeichen während des Fotografierens.

 

 

2. Weiterführender Behandlungsplan:

  • Der Hund wird angehalten, alle Bewegungen möglichst langsam durchzuführen (z.B. auf eine Mauer steigen, nicht springen).
  • Die Form der Interaktion auf der Beziehungs- oder Bindungsebene wird von mir nicht beeinflußt. Luluu hat an dieser Stelle das richtige Gespür für das Timing.
  • Distanz und Nähe zum Hund werden zunächst nicht per Kommando beeinflußt. Auch in diesem Bereich kann der Hund die Individualdistanz von Tim richtig erfassen und entsprechend anbieten (Vorbereitung taktile Reize).
  • Die Begleiter werden um eine möglichst passive Rolle gebeten (gilt auch für mich!).
  • In den nächsten Stunden werde ich vermehrt "eine gute Sicht" auf den Kopf von Luluu anbieten (visuelle Reize).
  • Ohren zeigen, Zähne zeigen, Maulaktionen bei Leckerchen kauen (visuelle und auditive (kauen) Reize).
  • Entsprechend der Konzentrationsfähigkeit Pausen einplanen (Tim scheint besonders beim Spazieren gehen und Bewegung des Rollstuhls zu entspannen).
  • Später sind vielleicht taktile Angebote möglich (den Hund berühren).

 

3. Anforderungsprofil an das Therapiehundteam:

An mich:

  • Da Tim nur durch nonverbale Zeichen seine Interessen /Stimmungen deutlich machen kann, muss ich sehr genau auf seine Zeichen achten: Gesichtsmimik, Körperspannung, Lautäußerungen.
  • Meinen Hund genau beobachten um an den richtigen Stellen eingreifen, lenken oder schützen zu können.
  • Nach Möglichkeit für Luluu nur nonverbale Kommandos verwenden um Tim nicht zu verunsichern.
  • Damit der Hund bei der Arbeit mit mehreren Leckerchen nicht gierig und hektisch wird , ist rechtzeitiges Gegensteuern (andere Aufgabe) notwendig.
  • Von mir ist hohe Konzentration erforderlich.
  • Vertrauen zu meinem Hund haben.
  • Keine übersteigerten Erwartungen haben! Weder an den Hund noch an Tim.
  • Eine Tüte Humor für Ungeplantes (z.B: Tim ißt mal schnell den Hundebiskuit selber).

An Luluu und Leo:

  • Eigenständiges Arbeiten auf der Bindungs-, bzw. Beziehungsebene.
  • Hohe Konzentrationsfähigkeit.
  • Fokussieren von Tim aushalten.
  • Langes Verharren in einer Position.
  • Beim Fellausziehen ruhig bleiben, keine Protest, oder Abwehrreaktion zeigen (*1)
  • Nähe beim Fressen zulassen.
  • Absolutes Vertrauen zum Teampartner.
  • Nicht gierig werden, auch wenn es so gut schmeckt.
  • Alle Bewegungen, auch die Begrüßung, langsam durchführen.

 

 (*1) Selbstverständlich lasse ich nicht zu, dass mein Hund gequält wird sondern reagiere sofort! Aber gerade bei autistischen Menschen kann das Zurückweichen des Hundes schnell zu einem Nachfassen oder Festhalten führen und die Situation eskalieren. Beispiel: Ein anderer autistischer Mann mit Inselbegabungen hat meiner Hündin zwei Finger in die Nasenlöcher gesteckt und mit der anderen Hand den Fang zugehalten. Die Luftzufuhr war nicht gänzlich unterbrochen, aber hochgradig unangenehm für das Tier. Hätte der Hund versucht sich zu befreien, oder ich hätte eingegriffen, hätte das zum sofortigen Nachfassen des Mannes geführt. Erst nachdem ich dem jungem Mann erklärt hatte, dass auch ein Hund nicht atmen kann wenn man ihm die Atemwege blockiert, genau wie bei einem Menschen, konnte er loslassen.(Zeitdauer etwa 10 Sekunden, gefühlte Zeit: eine Ewigkeit!) Die wirklich schwere Aufgaben für meine Hündin bestand darin, mein "bleib"- Zeichen zu befolgen und volles Vertrauen in meine Hilfe zu haben. Im Fall von Tim bezieht sich das Fellausziehen auf einen Pinzettengriff, bei dem maximal drei Haare ausgezogen wurden und es nicht schmerzhaft für sie war.  

4. Der weitere Verlauf:

 

2008 Tim sieht sich die Augen von Luluu genau an. Um dem Hund die Situation noch etwas zu erleichtern lenke ich den Blick seitlich an Tims Kopf vorbei. Dies ist heute nicht mehr notwendig.

Tim lässt sich im Laufe der Zeit (Sommer 2007 bis Heute) immer mehr auf den Hund ein. Er sieht nicht mehr weg, wenn der Hund ihn anschaut, sondern betrachtet die Augen des Hundes minutenlang genaustens und vergleicht sie auch gerne mit meinen.

Die Distanz zum Hund ist an manchen Tagen soweit abgebaut dass Tim mit Pinzettengriff an Luluu´s Haaren zieht oder sich auch mal die Nasen der beiden berühren. Basale Stimmulation mag Tim nach wie vor nicht besonders gerne. Bei diesen Versuchen wurde jedoch deutlich, dass Tim Berührungen an der rechten Körperhälfte besser aushalten kann, also weniger Individualdistanz zeigt. Ein wichtiger Hinweis für die alltägliche Pflege!

An guten Tagen biete ich Tim taktile Stimulation an. Jedoch beginnen sie nicht, wie eigentlich üblich, mit den Extremitäten, sondern mit dem Nackenbereich (von Körpermitte hin zu den Extremitäten). Das gefällt Tim an seinen guten Tagen und er zeigt Freude. Hände und Füße berühren ist bei Tim nicht gut möglich. An manchen Tagen mag er aber Berührungen an den Beinen.  

2008 Basale Stimmulation: Luluu sucht ein Leckerchen von Tims Sitzsack. Tim kann die Nähe und die Berührung gut aushalten. Der Hund hat gelernt, dass Tims erhobene Hand keine Bedrohung ist.

 





                               2010 Kurze Videosequenz zur taktilen Stimulation


2009 Tim lernt Leo kennen. Leo schaut Tim direkt an. Tim zeigt Zurückhaltung. Ein neuer Hund! Hund ist nicht gleich Hund. Tim nimmt den Unterschied zwischen Luluu und Leo sehr wohl wahr.


2010 Tim hat sich auf den Boden gelegt um Leo genau beobachten zu können. Der Hund hält hier beim Lecken eine minimale Distanz aus.

 





 

 

 

Kurze Video Sequenz mit Luluu(visuelle und auditive Stimulation)

 

 

 Tims Highlight bleibt das Anschauen des Fangs. Er liebt es, immer wieder die Kaubewegungen, das Aufblitzen der Zähne und die Zunge bei der Leckerchengabe zu betrachten. Das Angebot wurde entsprechend modifiziert: die Hunde bekommen größere, festere Leckerchen.

Da auch "Lecken" in Tims Interesse gerückt ist, bekommt der Hund ein Quarkgemisch zum Lecken dosiert mit einer Spritze gereicht, damit Tim länger beobachten kann.

 

2010 Tim schaut sich die Zähne von Leo an. Der Hund muss einen Moment meinen Griff aushalten. Solche Angebote sind für Leo anstrengend und ermüdend. Um die Konzentrationsfähigkeit zu erhalten gestalte sie recht kurz und ich wiederhole diese Übung erst in der nächsten Stunde wieder.

 

 

 

 

Da Tim auch selbst gerne ißt und immer wieder in meine Leckerchentasche greifen möchte (und auch schon geschafft hat!), biete ich ihm und dem Hund derzeit kleingeschnittene Möhren an. Vielleicht liegt es für Tim im Rahmen seiner Möglichkeiten dem Hund irgendwann bewußt ein Stück zuzuwerfen. Bisher hat dieses dreimal funktioniert, wobei man zu diesem Zeitpunkt auf keinen Fall von "bewußt" ausgehen darf, da Tims Mund jeweils so voll war, dass das Stückchen Möhre nicht mehr hinein gepaßt hätte. Dennoch die gewagte Hypothese: Durch diese Bedingungen kann Tim langfristig lernen, dass er den Hund beeinflussen kann?   

 

2010 Tim schaut in den Futterbeutel. Manchmal ist Tim schneller als der Hund und nimmt mir das Leckerchen aus der Hand oder greift gleich selbst in den Beutel. Der Hund darf, obwohl er sehr wohl weiß, dass das Futter für ihn gedacht ist (Brückensignal) nicht danach schnappen.

 

 

 

 2010 Tim hat keinen guten Tag. Es ist Winter und auf dem Weg zum Innenhof ist ihm vermutlich kalt geworden. Die Möhren gefallen ihm. Ich biete Tim im kurzem Takt immer wieder Möhren an, die er auch nimmt. Auf dem Foto hat Tim den Mund recht voll, kaut und zieht sich in "seine Welt" zurück. Für Leo heißt es warten.

 

Es gibt Tage, an denen Tim auch mit Hund nur schwer erreichbar ist. Insgesamt habe ich in den drei Jahren nur zweimal eine Stunde abbrechen müssen, und zweimal hat sie aufgrund schlechter Verfassung nicht statt gefunden. Zeigte Tim in der Arbeit Aggressionen, richtete er sie jedoch nie gegen den Hund.

Inzwischen habe ich gelernt, welche äußeren Gründe bei Tim zu Unbehagen führen können: Regen, Kälte, neuer Integrationshelfer. Das Angebot findet nun im Winter in einem großzügigen und geheizten Innenhof zu Wohngruppen statt.  

Obwohl Tim es gern mag im Rolli geschoben zu werden, möchte er auch mal aussteigen. Er greift kaum noch nach Pflanzen o.ä.. Tim richtet seinen Fokus voll und ganz auf den Hund. Seine Konzentrationsfähigkeit auf das Tier hat sich im Laufe der Zeit auf Intervalle von bis zu 15 Minuten gesteigert.

 

2010 Alle sind voll konzentriert. Tim und Leo schauen sich direkt in die Augen. Für Leo ist das stressfrei, da beide eine Beziehungs- Bindungsebene zu einander haben.

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2010 Leider ist die Kamera zu langsam. Eine Sekunde zuvor haben sich die Nasen der Beiden berührt. Auf dem Bild schaut Tim sich die feuchte Nase noch einmal genau an.

 

5. Resümee:

Das Angebot für Tim läuft nun über einen Zeitraum von drei Jahren. Zur Entwicklung von Tim äußert sich die Schule sehr positiv. Laut Schulzeugnis zeigt Tim seltener Aggressionen. Seine Außenseiterposition im Klassenverband hat sich damit zum Positiven verändert. Dieses sei durch die tiergestützte Sozialarbeit begünstigt worden. Die Bezugsbetreuerin der Wohngruppe berichtet, dass Tim weiterhin seine "Auszeiten" benötigt. Tim verbringt noch viel Zeit in seinem Zimmer, aber nicht mehr so häufig wie im Jahr 2007. (Anmerkung: Der Personalschlüssel in sozialen Einrichtungen ist inzwischen derart knapp, dass es kaum möglich ist Tim eine eins- zu -eins .- Betreuung zu bieten. Ich habe Hochachtung vor dem Engagement der Mitarbeiter die täglich ihr Maximum geben!) Die Mutter von Tim hat unsere Arbeit zweimal begleitet und ist von der Wirkung unserer Arbeit überzeugt. Da Tim regelmäßig an Wochenenden seine Familie besucht, oder Besuch erhält und soviel Freude am Hund zeigt, hat seine Mutter sich zu einem eigenen Hund entschlossen. Sie berichtet, dass Tim Interesse an ihrem Hund zeigt. Nur sei der Einjährige noch ein wenig zu stürmisch für Tim.

Ich nehme Tim nur in der Schulzeit für eine Stunde in der Woche wahr. Daher sehe ich die Entwicklung von Tim mit größerem Abstand als andere Mitarbeiter. Insgesamt habe ich Tim nur wenige Male in aggressiver Stimmung (mit Selbstverletzung oder um sich schlagen) erlebt. Jedes Mal war der Grund zu Eruieren, wie zum Beispiel Kälte oder eine Erkrankung. Seit 2009 habe ich bei Tim solches Verhalten nicht mehr wahrnehmen können. Seine "schlechten" Tage sind für mich nur durch geringere Erreichbarkeit, kürzere Konzentrationsfähigkeit und weniger Lachen erkennbar.

Im Vergleich mit dem Beginn unserer Arbeit kann Tim heute längeren Blickkontakt aufnehmen und aushalten. Dieses zeigt er nun auch bei Menschen. Seine Konzentrationsfähigkeit hat sich gesteigert. Tim kann die Hunde eindeutig unterscheiden. Sein Verhalten ist bei den Tieren unterschiedlich. Das Stimmungsbild von Tim ist in meinen Beobachtungszeiten eindeutig positiv. Die Intensität von Abwehrverhalten hat deutlich nachgelassen.

Tim hat Freude an der Tiergestützten Sozialarbeit. Sie ist eine Bereicherung in seinem Leben. Über den Erwartungen hinaus zeigt Tim an guten Tagen ein solches Interesse am Hund, dass er sich bereits im Klassenzimmer dem Hund zuwendet und wir die Räumlichkeiten nicht mehr direkt verlassen können. Tim berührt den Hund von sich aus. Er möchte immer häufiger aus seinem Rollstuhl aussteigen, zeigt mehr Mobilität.

Somit sind die gesetzten Ziele der Tiergestützten Sozialarbeit erreicht.

Tims Persönlichkeitsentwicklung ist durch die Unterstützung der Tiergestützten Sozialarbeit positiv verlaufen.

Daraus schließe ich mehr Lebensqualität für Tim.

Ausblick für Tim:

In diesem Sommer wird Tim seine Schulzeit beenden. Er wird im Anschluß eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung besuchen. Die Schule und die Wohngruppe legen der Werkstatt nahe die tiergestützte Sozialarbeit weiter zu ermöglichen, da Tim davon profitiert. Die Mutter möchte für Tim dieses Angebot ebenfalls erhalten, so dass ich mit meinen Hunden und mit neuen Zielen Tims Lebensweg vermutlich noch weiter begleiten darf.

Wir, Luluu, Leo und ich freuen uns darüber, weil Tims Lachen ein Geschenk an uns ist. Ÿ

 

 

 

 

 

 

 

 

2010 Tim ist aus seinem Rollstuhl ausgestiegen um Leo direkten Blickkontakt auf zu nehmen.

Irmhild Nonhoff

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